Dienstag, 1. Oktober 2013

Therapieren wir unsere Kinder kaputt?

Eigentlich hatte ich mir den letzten "Spiegel" ja nur gekauft, weil ich den 8-Seiten-Artikel über Marcel Reich-Ranicki lesen wollte. In jenen längst vergangenen Zeiten, als ich mich im Deutsch-LK am KGH durch die Tiefen der deutschen Literatur wühlte (Günter Grass mag ich bis heute nicht sonderlich, und auch mit Johannes Bobrowski hatte ich so meine Probleme, während ich mit Kleist, Goethe und Heine eigentlich ganz gut klar kam), war das "Literarische Quartett" Pflichtprogramm.

Zurück zum "Spiegel".

Im Innenteil fand ich einen Artikel mit dem Titel "Du Psycho!", den ich mindestens genauso interessant fand wie den über Reich-Ranicki. Eine Journalistin, die anonym bleiben möchte, schreibt über ihre Erfahrungen, als bei ihrer Tochter im ersten Schuljahr ADS diagnostiziert wurde. Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich dabei um eine Fehldiagnose.

Tatsache ist, dass ich in den letzten Jahren verstärkt mit Kindern zu tun habe, bei denen die Diagnose ADS bzw. ADHS lautet. Oder zumindest habe ich den Eindruck, dass ich bei jedem zweiten Sorgerechts- oder Umgangsstreit einem Elternteil gegenüber sitze und mir gesagt wird: "Ich habe ein Kind namens XYZ und er/sie hat ADHS."

(Das sind die Momente, in denen ich mich frage, ob den Eltern zu ihren Kindern spontan nichts anderes einfällt, z.B.: "Meine Tochter ist eine richtige Leseratte", oder "Mein Sohn spielt in der C-Mannschaft vom TuS Hastenichtgesehen Handball, und zwar richtig gut.")

Für mich heißt das dann, dass ich beim Gericht darauf hinweisen muss. Oft genug brauchen Familienrichter ein Gutachten, um entscheiden zu können, und auch der Gutachten muss wissen, welche Diagnose schon gestellt worden ist, um sein Gutachten auf einer entsprechenden Basis zu erstellen. Letztlich geht es ja immer um die Frage, was dem Kindeswohl dient (bzw. was dem Kindeswohl nicht widerspricht).

In besagtem Artikel ist mir eine Aussage aufgefallen, der uns zu denken geben sollte:

"Wir haben zu spät verstanden, dass sich mit einer Diagnose wie ADS etwas Dramatisches verändert: der liebevolle Blick aufs eigene Kind. Eine pathologische Sicht gesellt sich dazu. Und leider wachsen Kinder den Erwartungen der Erwachsenen entgegen, auch den schlechten." 

Vor ein paar Wochen habe ich ein Buch von Louise Jacobs gelesen (ja, sie stammt aus der Familie mit der "Krönung"), in dem sie beschreibt, wie sie als Kind von einem Therapeuten zum anderen geschickt wurde, nachdem bei ihr Dyslexie festgestellt worden war. Schon damals, in Kombination mit meinen eigenen Erfahrungen aus der Praxis, habe ich mich gefragt, ob wir unsere Kinder nicht "kaputt therapieren". Und nun stolperte ich über diesen Artikel.

Eine Frau, die jahrelang von ihrem Mann geschlagen worden war, hat einmal zu mir gesagt: "Frau Schwentker, wenn Ihnen jahrelang jemand sagt, dass Sie nur ein Stück Scheiße sind, dann glauben Sie's irgendwann selbst." Ich kann mir vorstellen, dass es hier ähnlich läuft: Mit jeder Sitzung beim Therapeuten, mit jeder Medikamentengabe, sogar mit jeder Nachhilfestunde wird dem Kind - wenn auch nur unbewusst - suggeriert, dass mit ihm "etwas nicht stimmt". Dass es nicht so ist, wie man es gerne hätte.

Sollen Kinder nun nicht mehr behandelt werden? Die klare Antwort darauf lautet: Doch, natürlich. Alles, was dem Kind hilft, soll möglich gemacht werden.

Vielleicht hilft es den Kiddies aber am meisten, wenn ihre eigenen Eltern sie nicht nur auf ihre "Defizite" reduzieren.

Nur so ein Gedanke.


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